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Um fünf Uhr erschien Tomas Liljemark vor der Glastür. Er war wirklich ein riesiger Kerl. Immer wenn der Reichspolizeichef durch eine Tür trat, hatte man den Eindruck, ein Spinnaker würde aufgezogen und vom Wind aufgebläht. Für einen Augenblick widmete Liljemark seine ganze Aufmerksamkeit der galanten Begrüßung von Barbro. Im Gegensatz zum Reichskriminalchef Sten Haglund beeindruckte Tomas die halbgöttliche Abkunft von Barbro als Östermalmer Milliardärstochter sowie die gesamte Oberfläche ihres Körpers.
Seit Kjell Barbro Setterlind kannte, lag sie zum erstenmal mit ihrem höchsten Vorgesetzten nicht im Stellungskrieg. Beginnend bereits bei ihrem Vater hatte Barbros Verhältnis zu jedem ihrer Vorgesetzten bisher im Zerwürfnis geendet. Kjell hoffte, dass es sich der höchste Chef der schwedischen Polizei nicht mit Barbro verscherzen würde. Aber zu seiner Erleichterung brachte sie Tomas aufrichtigen Respekt entgegen. Vielleicht hatte sie aber auch nur erkannt, dass es über dem Reichspolizeichef nur noch den lieben Gott gab. Die letzten zwei Jahre mit Barbro hatten Kjell allerdings den Eindruck vermittelt, dass Barbro genau auf ihn zusteuerte.
Liljemark schüttelte mit Leidenschaft fremde Hände. Danach legte er Kjell seine Hand auf die Schulter. Das tat er auch sehr gern.
„Ankläger Ivenholt wird dabei sein. Er ist euer Mann.“
Diesen Namen hatte Kjell noch nie gehört, und er machte keinen Hehl daraus.
„Er ist erst seit April Kammerankläger und hat Wochenenddienst“, sagte Tomas. „Ein junger Streber mit dem Herzen am richtigen Fleck.“
„Tomas, warum brauchen wir jetzt schon einen Ankläger?“, fragte Barbro entsetzt. „Und warum ein junger Kammerankläger? Der kennt die Wiener Konvention doch nur aus dem Fernsehen.“
Sie wollte ganz eindeutig zu Gott.
Vorerst war es jedoch Liljemark, der Barbro seine rechte, noch freie Hand auf die Schulter legte. „Keine Sorge, Barbro. Die Beschlüsse bleiben beim Voruntersuchungsleiter.“ Tomas’ linke Hand ruhte noch auf Kjells Schulter und drückte jetzt kräftiger zu. „Ivenholt soll das Kuvert als Beweismittel beschlagnahmen. Das enthebt dich als Voruntersuchungsleiter von dieser Bürde. Ihr habt ja das Kuvert geöffnet. Somit ist die Verantwortung schön verteilt.“
Die drei Ermittler hatten sieben Personen vor sich. Links saß Tomas Liljemark mit zwei weiblichen Mitgliedern aus der Reichspolizeileitung, rechts drei Männer aus dem Außerministerium. Dazwischen war Tobias Ivenholt ganz allein für die Anklage zur Anhörung erschienen. Der Eindruck dieses Arrangements wurde durch das schmale Gesicht des jungen Anklägers verstärkt. Ivenholt war auf keinen Fall älter als Mitte zwanzig. Neben seiner Liebe zur Justiz gab es eine zweite Leidenschaft in seinem Leben, nämlich aufwendig modellierte Gelfrisuren.
Während Barbro ihren Computer an den Projektor anschloss, stemmte Henning die Ermittlungsakte auf den Tisch. Inzwischen füllte sie zwei dicke Aktenordner. Wenn eine Akte in so kurzer Zeit dermaßen anschwoll, musste es sich um einen sehr komplexen Fall handeln. Die zweite Möglichkeit war, dass die Ermittler völlig im Dunklen tappten.
Kjell beugte sich über die Tischplatte, um dem Ankläger und den Diplomaten die Hand zu schütteln. Den Verbindungsmann des Außenministeriums bei der Polizeileitung kannte er bereits, den Chef der Analyse- und Kriseneinheit jedoch noch nicht. Der dritte war anscheinend Jurist und Protokollant.
Der Projektor warf eine Luftaufnahme des Areals um die Bibliothek an die Wand. Kjell erläuterte den Fall chronologisch, zweimal ergänzte Henning etwas aus der Akte. Barbro zeigte eine Reihe weiterer Bilder.
„Die Kernfrage in dieser Minute ist das Kuvert“, sagte Kjell am Ende. „Wir stufen es als unecht ein und beantragen, es jetzt schon als Beweismittel bei Gericht aufzunehmen, da wir seinen Verlust vor Erhebung der Anklage befürchten müssen.“
Barbro ergänzte den nötigen Paragrafen aus dem Prozessrecht, denn es kam nicht oft vor, dass die Beweismittel vor der Anklage zum Gericht gingen.
Tomas’ Plan schien aufzugehen. Ivenholt nickte.
Kjell hielt inne und betrachtete den Ankläger. Es bereitete ihm jetzt schon Gewissensbisse, einen so unerfahrenen jungen Mann für eine so riskante Sache einzuspannen. „Bist du dir über den Sinn im Klaren?“
„Du willst Nägel mit Köpfen machen und verhindern, dass das Kuvert doch noch als sakrosankt anerkannt wird und du ins Gefängnis wanderst.“
„Ganz genau.“ Kjells Gewissensbisse lösten sich in Luft auf. Ivenholt war nicht so unerfahren, wie er aussah.
„Aber bist du dir im Klaren, was passiert, wenn Opfer und Täter Diplomaten sind?“, fragte Ivenholt.
„Das muss er nicht“, ging der Jurist aus dem Außenministerium dazwischen. „Wenn die tote Frau diplomatischen Schutz genießt, dann hat die Polizei sich hervorragend darum bemüht, ihren Tod aufzuklären. Ist auch der Täter Diplomat, wird unser Botschafter im Herkunftsland eine Protestnote nach der anderen überreichen.“
„Niemand wird sich um das Kuvert kümmern, wenn der Mörder Diplomat war“, ergänzte der Krisenchef.
Der Ankläger drehte sich zum diplomatischen Flügel des Tisches. „Ihr seht die Sache diplomatisch, ich sehe sie juristisch.“
„Junger Freund“, sagte der Krisenchef. Dem Alter nach stand er am anderen Ende der Karriere, und man konnte jede Krise, die er gemeistert hatte, in seinem faltigen Gesicht ablesen. „Was auch immer du am Gewohnheitsrecht der internationalen Diplomatie juristisch sehen willst, ich versichere dir, es geht nur um Politik. Die diplomatischen Konventionen sind ein langer, ruhiger Fluss und keine Marmortafel.“
Kjell bemerkte, wie Barbro versteinerte. Niemand konnte einen Lachanfall so gut unterdrücken wie sie.
„Könnte ich mir das Kuvert ansehen?“, fragte der Jurist aus dem Ministerium.
Bisher hatte es bei Henning auf dem Tisch gelegen. Er reichte es hinüber. Der Jurist betrachtete das Kuvert von allen Seiten, ohne die durchsichtigen Schutzhülle zu öffnen.
„Das Kuvert selbst ist auf jeden Fall echt. Sonst fehlen jedoch alle Kriterien. Es gibt weder eine Plombe noch ein Siegel. Zudem muss der Botschafter oder ein Stabschef vom Ministerium hier unterschreiben. Diese Unterschrift ist wichtiger als das Siegel. Ohne sie hätte das Kuvert sogar mit Siegel keinen Status. Und schließlich müsste es eine Registrierungsnummer darauf geben.“ Der Jurist legte das Kuvert abschätzig auf den Tisch und suchte Augenkontakt mit dem Krisenchef. Beide schüttelten den Kopf. „Das hier hat keinen Status. Wir erkennen es nicht als diplomatische Sendung an.“
„Entschuldigung“, sagte Henning mit ruhiger Stimme. „Für uns wäre es wichtiger, ob das Kuvert von Anfang an eine Fälschung war oder all die entscheidenden Merkmale erst später verloren hat. Jemand könnte sie ja leicht entfernt haben, vielleicht sogar, um die Identität der Sendung zu verschleiern.“
Der Krisenchef zuckte mit den Achseln. Also war alles möglich. „Habt ihr denn keine Anhaltspunkte?“
Natürlich gab es Anhaltspunkte. Die wenigen Fingerabdrücke auf dem Kuvert waren der wichtigste.
„Die Frau habt ihr überprüft?“, fragte der Krisenchef halbrhetorisch.
„Es gibt keine Vermisstenmeldung zu einer akkreditierten Diplomatin“, sagte Kjell.
„Es gibt überhaupt keine Vermisstenanzeige, die auf diese Frau zutrifft“, ergänzte Henning.
Kjell nickte. „Kann sie nur der Kurier sein?“
Der Jurist schüttelte den Kopf. „Dann würden wir sie kennen. Kuriere werden dem Ministerium gemeldet. Aber selbst dann passt das Kuvert in dieser Form nicht dazu.“
„Übrigens sind die Fingerabdrücke der Toten sowohl auf dem Kuvert als auch auf dem Krypto“, fügte Kjell noch hinzu. „Sie kannte also den Inhalt der Sendung.“
Falls es eine Sendung war.
„Das Krypto ist darin?“, fragte der Jurist.
Kjell nickte.
„Ist es en clair oder chiffriert?“
„Die zweite Möglichkeit“, sagte Henning und grinste. „Die Fingerabdrücke sind nirgendwo bekannt.“
„Habt ihr es am Flughafen probiert?“, fragte Ivenholt.
Barbro meldete sich. „Da sie nicht volksbuchgeführt ist und es keine medizinischen Daten von ihr in Schweden gibt, suchen wir zuerst in den Hotels. Wir wissen nicht, wann sie hier angekommen ist, müssen aber davon ausgehen, dass sie eine Unterkunft hatte.“
„Kann sie denn nicht auch eine Wohnung haben?“, fragte der Krisenchef unfachmännisch.
Barbro behielt die Beherrschung. „Nein, junger Freund. Ohne Personennummer keine Wohnung. Ohne Volksbuch keine Personennummer.“
Der Krisenchef war noch nicht zufrieden. „Aber die Wohnung muss ja nicht auf ihren Namen laufen.“
„Den unwahrscheinlichen Möglichkeiten werden wir uns augenblicklich zuwenden, sobald die wahrscheinlichen ausgeschöpft sind“, übernahm Henning. „Wenn sie bei einer anderen Person gewohnt hat, warum hat sich diese Person nach dem Unfall nicht gemeldet? Die Unterkunft muss sich in der Nähe der Bibliothek befinden, da die Frau nur wenig Bargeld und keine Jacke bei sich hatte. Auch ihre Kleidung legt den Schluss nahe, dass sie eher in einem Hotel wohnte als privat.“
Zum Glück verschwieg Henning eine weitere aufwendige Überlegung vom Nachmittag. Die Frau hatte den 7-Eleven mit einem Fünfhundertkronenschein in der Tasche betreten. Kleingeld und eine Fahrkarte hatte sie also nicht bei sich gehabt. Wie hätte sie so mit der U-Bahn oder mit dem Bus herkommen können? Auch bei einer Taxifahrt wäre Wechselgeld wahrscheinlich gewesen.
Kjell hob müde die Hand. „Wenn wir keine offizielle Unterkunft finden, dann sagt uns das eine Menge. Es wäre eine wichtige Information.“ Damit war die Sache für ihn beendet. Er übergab wieder an Henning.
„Da wir ihre Identität nicht kennen, bleiben uns am Flughafen nur die Kameras. Deren Auswertung kann lange dauern, denn Diplomatenpässe werden nicht gescannt. Ebenso wenig die Pässe von EU-Bürgern, wenn sie sich innerhalb Europas bewegen. Und die Tote ist mit Sicherheit Europäerin. Wir haben heute die Bestätigung der Rechtsmedizin erhalten: Die Frau stammt aus Italien.“
„Italien?“, riefen die drei Diplomaten im Chor.
Anscheinend gab es von Land zu Land unterschiedlich tiefe Freundschaften.
„Wir vermuten, dass der Text des Kryptos Etruskisch ist.“ Kjell erklärte, wie sie zu dieser Vermutung gekommen waren. „Wir wollen die italienische Botschaft nicht einschalten, weil wir Angst um den Status des Kuverts haben. Die Ermittlung könnte dann schnell eingestellt werden, wenn sich herausstellt, dass die Botschaft in die Sache verwickelt ist.“
Die drei Diplomaten steckten die Köpfe zusammen und tuschelten.
„Hat eure Aufregung damit zu tun, dass wir viele Waren nach Italien exportieren, aus der Türkei aber nur Einwanderer importieren?“ Fragen kostet ja nichts, dachte sich Kjell.
Der Krisenchef schüttelte den Kopf. „In der italienischen Botschaft findet morgen das Sommerfest statt, wie jedes Jahr am Abend des italienischen Nationalfeiertags. Das halbe diplomatische Korps von Stockholm wird morgen Abend in der Botschaft zu Gast sein. Das ist unser Problem. Die Tote könnte eine Angehörige sein.“